Dieses Kapitel basiert auf Gesprächen und eigenen Erfahrungen im Bezirk des OLG Celle.
Jeder hat schon einmal die Beobachtung gemacht, dass einem Mitmenschen unbeabsichtigt etwas missliches passiert, "peinlich, peinlich" denkt man sich dabei. Auch die Akteure vor Gericht sind nur Menschen. Juristen - und damit auch Richter - sind ein Spiegelbild der gesamten Gesellschaft. Es gibt auch bei Richtern gute und schlechte Charakterzüge; manche sind die Ruhe selbst, andere eher hektisch. Ich gehe wohl nicht zu weit, wenn ich sage, Richter sind "Menschen wie Du und ich". Das bedeutet allerdings, dass auch die Richter peinliches und unpassendes Verhalten der Anwälte und ihrer Parteien im Gerichtssaal bemerken und sich zwangsläufig ihren Teil dabei denken. Richter sind eben auch nur Menschen. Zwar sind die allermeisten bemüht, ihre Entscheidungen so objektiv wie möglich zu treffen und schlechte Eindrücke, die das Verhalten einer Partei hinterlassen hat, zu ignorieren. Das klappt allerdings nicht immer. Sympathien und Antipathien spielen wahrscheinlich auch in Gerichtsentscheidungen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ich sage "wahrscheinlich", weil dies nicht beweisbar ist. Es gibt hierzu keine wissenschaftlichen Untersuchungen, was nicht verwundert, denn solche Untersuchungen würden auf Befragungen einer Vielzahl von Richtern beruhen. Und welcher Richter würde Einschränkungen in der Objektivität seines Urteilsvermögens zugeben?
An einem süddeutschen Gericht gab es mal einen Fall, der untersucht worden ist. Es ging um einen Strafrichter, der in einer bestimmten Art von Fällen relativ harte Urteil fällte. Ein Vergleich von Akten mit ähnlich gelagerten Fällen ergab, dass das Strafmaß bei anderen Richtern niedriger ausfiel. Es stellte sich heraus, dass der Richter unangenehme Kindheitserfahrungen in dem betreffenden Deliktsbereich gemacht hatte. Daran ist zu erkennen, dass auch Richter emotionalen Einflüssen unterliegen. Ich bin mir sicher, dass dies in mehr oder weniger starker Ausprägung für sämtliche Richter gilt. Dieser Fall zeigt aber auch, dass Richter de facto einen großen Handlungsspielraum haben - insbesondere in der Strafgerichtsbarkeit bezüglich des Strafmaßes. Schließlich dauerte es eine gewisse Zeit, bis dieses Verhalten auffiel und dann auch untersucht werden konnte.
Im Gerichtssaal muss also die Chemie stimmen. Dies gilt insbesondere für Strafgerichtsverfahren. In das Strafmaß fließt auch maßgebend der Ablauf der mündlichen Verhandlung ein - und dazu gehört eben auch das Verhalten der Partei. Ein ordentliches Auftreten, auch anständige Kleidung ist hier besonders wichtig. Das gilt auch heute noch, obwohl mittlerweile vieles normal geworden ist was früher undenkbar war. Z.B. als Partei oder Anwalt im Gerichtssaal ohne Krawatte zu erscheinen. Oder Jugendliche, die ihr Käppi aufbehalten oder sich irgendwie auf ihren Platz hinflegeln. So etwas macht keinen guten Eindruck. Hinsichtlich der Kleidung im Gerichtssaal gilt Folgendes: Sie können rechtlich betrachtet erscheinen wie Sie wollen. Schlimmstenfalls verweist Sie der Richter wegen Missachtung des Gerichts aus dem Saal; leisten Sie daraufhin Widerstand, so wird's teuer. Wenn Sie Partei sind, müsste der Prozess vertagt werden. Da die Richter so etwas nicht wollen, werden sie den Prozess ungeachtet Ihrer Kleidung fortführen - und sich ggf. ihren Teil denken. Wenn Sie sich auch keine sonstigen Nachteile in Form von Antipathien bei den Richtern einhandeln wollen, sollten Sie in "normaler" (Jeans und T-Shirt ist schon brauchbar), aber gepflegter (d.h. gewaschener, unverfleckter, nicht riechender) Alltagskleidung erscheinen. Das machen Rechtsanwälte in Zivilsachen in den Sommermonaten auch so. In kühleren Jahreszeiten sind bei Anwälten auch Strickpullover ok. Freilich erscheinen viele Anwälte in Anzügen oder Sakkos, das war schon immer so üblich. Bei Verhandlungen in Strafsachen erscheinen Rechtsanwälte üblicherweise mit weißem Oberhemd und weißer Krawatte.
Generell gilt für alle Parteien: Man soll dem anderen nicht ins Wort fallen und nicht hektisch sein, sondern Ruhe bewahren. Starke Emotionen verhindern den Zugang zur Sachlichkeit. Die Richter erleben häufig Prozesse, in denen mindestens eine Partei aufgebracht herum schimpft. Derartiges Verhalten nervt und trägt dazu bei, dass der Richter - eventuell sogar unbewusst - eine Antipathie zu dieser Partei aufbaut.
Das Gesagte gilt auch für das Auftreten von Zeugen, denn das Gericht hat einen breiten Spielraum, um die Aussage eines Zeugen zu würdigen: Abgesehen von Sympathie und Antipathie, die in die Entscheidung eigentlich nicht einfließen sollen, muss das Gericht stets die Glaubwürdigkeit des Zeugen und die Glaubhaftigkeit seiner Aussage beurteilen. Zudem fließt in die Beweiswürdigung nicht nur die Zeugenaussage als solche ein, sondern die gesamte Verhandlung und damit auch alle Umstände rund um die Person des Zeugen.
Ein Anwalt macht kurze prägnante Schriftsätze, damit der Richter sich beim Lesen nicht schon über überflüssiges Geschwafel ärgern muss. Auf einen Amtsrichter am Zivilgericht kommen nämlich ca. 800 zu entscheidende Fälle pro Jahr. Ein Anwalt hört in der Verhandlung zu und macht sich in Echtzeit Gedanken über das Gehörte. Er verhandelt so, dass auch seine Partei ihn versteht. Er hat ein gutes Gefühl dafür, was seiner Partei nützt. Er vermeidet es, das Gericht anzugreifen. Er agiert innerhalb der gesamten Verhandlung ruhig, freundlich und sachlich, und zwar auch gegenüber dem Prozessgegner, von dem er angegriffen wird. Das beflügelt die Chemie zwischen ihm und dem Gericht. Rechtsanwalt zu sein ist daher auch eine Frage des Talents für den richtigen Umgang mit Menschen.
Wenn eine Partei anwaltlich vertreten ist, kommt es manchmal vor, dass die Partei in der Verhandlung etwas sagen will - z.B. weil Sie vom Gericht oder vom Prozessgegner direkt angesprochen worden ist - und dabei einen Fußtritt oder einen Rippenstoß vom Rechtsanwalt bekommt. Das passiert dann, wenn der Rechtsanwalt den Eindruck hat, dass die Partei jetzt etwas sagen könnte, was ihr schadet. Ich selbst habe so etwas in einer Strafverhandlung erlebt. Der Richter hat es mit Sicherheit auch bemerkt, hat sich jedoch nichts anmerken lassen. So etwas ist peinlich. Hier im Fall waren die Sichtblenden, die vor den Tischen in einem Saal des Amtsgerichts Lehrte angebracht waren, wegen eines Wasserschadens vom Hausmeister entfernt worden. Das war dem Anwalt wohl nicht aufgefallen, als er den Saal betrat.